Die NSDAP hatte mit ihren antisemitischen Parolen schon in den 20er Jahren in Marburg deutliche Zustimmung gefunden; so wundert es nicht, dass diese Partei 1933 bei der Stadtverordnetenwahl 20 von 30 Sitzen bekam. Die Stadt schloss umgehend Juden vom Viehmarkt aus, von dem eine große Zahl der Landjuden gelebt hatte; bald danach verbot die Stadt allen jüdischen Händlern die Teilnahme an den Krammärkten. Sofort nach der „Machtübernahme“ rief die NSDAP zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, dem fast alle Bürger folgten; denn die SA bezog vor diesen Geschäften und Büros Posten und verjagte Juden von öffentlichen Plätzen. Die SA trieb auch einen jüdischen Studenten, der sich in ein christliches Mädchen verliebt hatte, durch die Stadt, mit einem Schild um den Hals mit der Aufschrift: „Ich habe ein Christenmädchen geschändet“, und nahm ihn anschließend in „Schutzhaft“. Die jüdische Gemeinde erklärte zwar öffentlich ihre nationale Treue, eine Zukunft in diesem NS-Staat konnten jedoch viele Juden nicht mehr erkennen und bemühten sich um Auswanderung.
Hatten vor 1933 in Marburg noch 350 jüdische Einwohner gelebt, so gab es 1935 nur noch 193 Personen jüdischen Glaubens, davon lebten noch 57 von einem Gewerbe; viele, vor allem junge Leute, waren schon emigriert. Ohne Hoffnung nahm sich Prof. Hermann Jacobsohn, der seit 1911 Sprachwissenschaften gelehrt und sich für eine Versöhnung von Deutschtum und Judentum eingesetzt hatte, das Leben.
Das wirtschaftliche und kulturelle Leben der Juden in Marburg kam zum Erliegen; öffentliche Beschimpfungen des Judentums gehörten zur Tagesordnung. So fuhr im Fastnachtszug 1936 ein Wagen mit, auf dem als orthodoxe Juden Verkleidete auf dem Weg nach Palästina standen, die dafür noch Vergnügungssteuer zu zahlen hätten. Trotz aller Behinderungen konnte die jüdische Gemeinde aber noch 1936 eine ungestörte Veranstaltung in der Synagoge durchführen: die Amtseinführung des letzten Rabbiners Peritz. Offizielle Vertreter der Behörden nahmen jedoch nicht teil, anders als bei der Einweihung 1897; die einzige verbliebene Zeitung druckte nicht einmal eine Einladung zu diesem Fest ab.
Die Gemeinde hatte 1897 im Vertrauen auf die Akzeptanz von Deutschen mit jüdischem Bekenntnis ihre Synagoge eingeweiht; die Hoffnungen aber auf ein friedliches Miteinander trogen. Das NS-Regime arbeitete vielmehr systematisch auf die Vernichtung der Juden hin. Nachdem schon am 8. November 1938 Brandsätze in die Synagoge geworfen worden waren, also noch bevor das Attentat auf den deutschen Legationsrat in Paris bekannt wurde, nahm die Gestapo am Morgen des 10. November 31 jüdische Männer in „Schutzhaft“ und brachte sie in das KZ Buchenwald. In der folgenden Nacht steckten Marburger SA-Leute das jüdische Gotteshaus in Brand, ohne dass die Feuerwehr einen Löschversuch unternahm. Die noch stehenden Pfeiler der Kuppel wurden dann gesprengt und die Trümmer bis auf Erdbodenhöhe fortgeschafft, damit keine Erinnerung an die Synagoge blieb. Die Jüdische Gemeinde Marburg musste noch die Kosten für die Trümmerbeseitigung übernehmen. Mit dem Pogrom vom 11. November begann die „Abwicklung“ der letzten jüdischen 20 Geschäfte, die unter Wert verkauft werden mussten; den Nutzen davon hatte neben staatlichen Einrichtungen die „arische“ Konkurrenz im Handel, die sich damit eines unliebsamen Mitbewerbers entledigte. Die Pogromnacht kam auch der Universität zugute, die schon im Oktober Verhandlungen um das Synagogengrundstück geführt hatte: sie kaufte 1939 das Grundstück, um es sich für spätere Erweiterungen zu sichern.
Mit drei Deportationen der noch verbliebenen Juden aus Marburg im Jahr 1942 setzte das NS-Regime das Ende der jüdischen Gemeinde Marburgs durch. Zu den letzten Deportierten gehörte die Familie des Dr. jur. Hermann Reis, der jahrelang die jüdischen Interessen gegenüber dem NS-Regime vertrat und als Vorsitzender des „Jüdischen Kultusvereins“ 1939 die Verhandlungen um den Verkauf des Grundstücks führte.
Elmar Brohl
Die Novembernacht hab ich miterlebt … es klopft … wir hören, die Synagoge brennt. In der Nacht hämmert’s an der Tür und die Leute hämmern uns die Tür zu und rufen: „Wir wollen nicht mehr mit Juden unter einem Dach leben!“
Am Morgen gehe ich auf die Straße, ich wollte zur Polizei gehen. Ich hab gedacht, die Polizei kann uns helfen, aber … ich komme auf die Straße, da begegnet mir eine Frau Rosenbaum, eine jüdische Frau, die ein Konfektionsgeschäft gehabt hat, und die sagt zu mir: „Ilse, wo willst du denn hin?“ Sag ich: „Ich gehe zur Polizei.“ Sagt sie: „Hast du nicht gehört, dass die Synagoge brennt?“ Sag ich: „Das hab ich gehört. Und hinten, die hämmern das Haus zu!“ Da hat sie gesagt: „Geh nirgends hin! Geh nach Hause! Unsere Männer sind alle geholt worden. Mein Mann ist fort. Bleib zuhause!“ Also sind wir wieder nach Hause, weinend, schwer …
Dann hat meine Mutter gesagt: „Weißt du was? Wir werden nach Meimbressen gehen.“ Das ist bei Kassel… Und sie hat angerufen nach Meimbressen. Da hat meine Tante gesagt: „Ihr bleibt am besten in Marburg. Bei uns läuft der Zucker die Treppe runter.“ Die hatten nämlich auch ein Kolonialwarengeschäft, und die Nazis haben ihnen alles kaputtgeschlagen. Also, das war … es war eine schwere Zeit. Die Nachbarin, die da zugeschlossen hatte, hat am Fenster gestanden, wir konnten uns von Fenster zu Fenster sehen. „Ha!“, hat sie rausgerufen, „Ha! Du denkst, du wirst deinen Mann wiedersehen? Der konnte flüchten, aber du kommst nicht mehr raus.“