Als Künstler, der sich eher mit temporären und sehr direkt ortsspezifischen Projekten zu Wort meldet, war die Gestaltung der Gedenkstätte am Platz der ehemaligen Synagoge eine besondere Herausforderung. Gedenkstätte, das ist Mahnung und Erinnerung, für gewöhnlich skulptural dauerhaft in Stein oder Bronze gefasst, damit die ewige Gültigkeit des schrecklichen Geschehnisses nicht in Vergessenheit geraten möge.
Ist es möglich, mit etwas anderen künstlerischen Werkzeugen eine dauerhafte Auseinandersetzung zu schaffen?
Meine erprobten Werkzeuge kommen zwar aus dem Bildhauerischen, nehmen aber Raum als gelebten Raum wahr und ernst, in dem sie auf kommunikative Art eben die Nutzer*innen dieses Ortes hören und ihnen eine Stimme geben.
Es war nicht Ziel des künstlerischen Teams, die Lücke, die in der Reichspogromnacht gerissen wurde, gestalterisch zu füllen, sondern sie sichtbar zu machen und immer wieder zu Wort kommen zu lassen. Wir suchten nach einer Möglichkeit, einen stetigen Ort der Erinnerung zu formulieren, der in ständiger Veränderung alljährlich zur erneuten Kommunikation zwischen Stadtgesellschaft und diesem Ort auffordert.
Es war nicht einfach, die Beteiligten für eine Idee zu gewinnen, die es so zuvor noch nicht gab. Aber im Laufe der Zeit wurden die Zettelkästen mehr und mehr angenommen und das Ritual der alljährlichen Neubestückung durch unterschiedliche Gruppen der Marburger Bürgerschaft zum Bestandteil der Gedenkfeiern.
Mit der historischen Katastrophe im Hintergrund beginnt die Stadtgesellschaft, miteinander zu reden. Und das scheint mir das Wichtigste in schwierigen und gespaltenen Zeiten: dass wir ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben. Nicht einfach, viel Arbeit immer wieder und wieder. So wie die alljährliche Bestückung der Kästen immer wieder die Anstrengung einfordert, erneut Menschen ins Gespräch zu bringen, um auf der Basis der schrecklichen Geschehnisse Anfang November 1938 über unser Zusammenleben, über die Zerbrechlichkeit unserer demokratischen Werte zu sprechen.
– Oliver Gather
Nachdem Zeitzeug*innen, Theolog*innen, Schüler*innen, die freiwillige Feuerwehr und viele anderen Akteuren der Marburger Stadtgesellschaft in den Zettelkästen zu Wort gekommen sind, ziehen Oliver Gather und Krischan Ahlborn in diesem Jahr ein Resümee. Ist es gelungen, gleichzeitig einen Ort des Gedenkens und einen Platz, an dem die Marburger gern verweilen, zu schaffen? Konnten die Zettelkästen einen Dialog über den Ort und seine Geschichte anregen? Kurz, ist der Garten des Gedenkens von einer Leerstelle zu einem vitalen, selbstverständlichen und wichtigen Teil Marburgs geworden?
Dazu haben wir Menschen befragt, die mit unterschiedlichen Perspektiven auf diesen Ort schauen. Hier ein kurzer Einblick in die Inhalte der Gespräche:
Welches Verhältnis haben Sie zum Garten des Gedenkens, dem Ort der ehemaligen Synagoge? Ein Ort, der von Ihren Mitbürger*innen zerstört und erst im Jahre 2002 von der Universität Marburg an Sie zurückgegeben wurde. Ist es heute ein jüdischer Ort, ein Ort deutschen Gedenkens oder beides? Darüber hinaus ging es im Gespräch mit der Jüdischen Gemeinde darum, was sich in den 10 Jahren seit der Eröffnung der Gedenkstätte verändert hat. Fühlen Sie sich in Marburg als deutsche Juden sicher und als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft?
Obwohl der Entwurf des Garten des Gedenkens mit den Zettelkästen damals in der Gemeinde nicht unumstritten war, ist sie heute sehr zufrieden mit dem Gedenkort. Er sei das geworden, worauf sie gehofft hatte: ein lebendiger Ort, an dem sich die Marburger*innen gerne aufhalten. Mit den Zettelkästen sei es gelungen, über die 10 Jahre eine rege Auseinandersetzung verschiedenster Gruppen der Marburger Stadtgesellschaft mit der Geschichte des Platzes und dem jüdischen Leben in Deutschland zu gestalten.
Obwohl das Problem des Antisemitismus in Deutschland – angesichts von Vorfällen wie dem Anschlag von Halle – in der letzten Dekade wieder deutlich sichtbarer geworden ist, ist dies in Marburg so kaum spürbar.
Problematisch sind da eher die von Seite des Innenministeriums geplanten Sicherheitsmaßnahmen, welche die Synagoge zu einer „Festung“ machen sollen. Offen bleibt, inwieweit sich das mit der Idee eines offenen Ortes für alle Marburger verträgt. Auf Dauer problematisch für den Bestand der Gemeinde ist die Altersentwicklung der Mitglieder. Schon heute ist es nicht selbstverständlich, dass die für eine Durchführung des Gottesdienstes notwendigen 10 jüdischen Männer anwesend sind.
Die Historikerin Dr. Susanne Urban ist mehr als qualifiziert, den Garten des Gedenkens aus Sicht der Gedenkkultur zu beurteilen. Sie hat – um nur ein paar Stationen ihrer Laufbahn zu erwähnen – in jüdischen Studien promoviert, am pädagogischen Institut von Yad Vashem gearbeitet, war Leiterin der Abteilung Forschung und Bildung des Arolsen Archives und hat als Geschäftsführerin des „SchUM Städte Speyer, Worms, Mainz e.V.“ erreicht, dass diese Orte jüdischer Kultur 2021 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurden. Heute leitet sie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus an der Universität Marburg.
Ihrer Einschätzung nach ist es dem Garten des Gedenkens gelungen, sensibel und spezifisch auf den Ort einzugehen. Im Gegensatz zu dem schlichten Gedenkstein, der 1963 errichtet wurde, würdige der Entwurf sowohl die Leerstelle, die durch die Zerstörung der Synagoge entstanden ist, als auch die Tatsache, dass es sich nicht nur um ein Gotteshaus, sondern auch um einen sozialen Ort gehandelt hat. Sie würde sich wünschen, dass der Ort mehr über die Menschen erzählt, die mit ihm verbunden waren. So zum Beispiel digitale Medien zu nutzen und den Platz mit Bildern, Biographien und Geschichten zu vernetzen.
Sie kritisiert, dass die aktuelle Gedenkkultur zu statisch ist und sich oft auf ritualisierte Floskeln beschränkt. So sei diese nicht in der Lage, wirksam auf Tendenzen zu reagieren, die versuchen die Shoah zu relativieren, was besonders in Hinsicht darauf, dass wir in naher Zukunft ohne die Stimmen der Zeitzeugen auskommen müssen, wichtig sei.
Die Söhne eines Marburger Juden, der 1934 aus seiner Heimatstadt vertrieben wurde, gehören zu den Menschen mit einer biographischen Verbindung zur zerstörten Synagoge, die wir im Vorfeld der Neugestaltung im Rahmen einer Recherchereise nach Israel schon einmal 2002 befragt hatten.
Für sie liegt der Wert der Gedenkstätte darin, zu verdeutlichen, welche Bedeutung die jüdische Gemeinde mit ihrer über 700-jährigen Geschichte für Marburg hat. Sie würden sich wünschen, dass dort mehr über die Menschen zu erfahren ist, die das Gesicht der Stadt geprägt haben. Ihnen ist wichtig, das Gedenken an das, was in der Shoah zerstört wurde, wach zu halten.
Um das Bild abzurunden, haben wir auch Menschen befragt, die an der Realisierung des Garten des Gedenkens beteiligt waren. Jürgen Rausch, der damalige Stadtbaudirektor und Monika Bunk, die als damalige zweite Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mitglied der Jury war und heute im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Fachdienst Kultur das Projekt Zettelkästen am Gedenkort betreut. Sie betonte, sie erachte es für gelungen, dass der Ort sich nicht auf ein historisierendes Gedenken beschränke, sondern Architektur und Zettelkästen einen lebendigen Ort geschaffen haben, der auch einen Austausch mit und über das heutige jüdische Leben in Marburg ermöglicht.
Herr Rausch bemerkte, dass der Garten des Gedenkens durch seine Architektur sowohl in seiner Funktion als öffentlicher Platz, als auch als Gedenkort gut funktioniert. Darüber hinaus ist er der Meinung, dass die Einbindung der historischen Baustruktur wie die Mikwe, die Stadtmauer, aber auch der ablesbare Grundriss der Synagoge Funktion und Bedeutung des Ortes physisch begreifbar macht.