Mein Name ist Sarah Gabriely. Ich bin 1931 geboren, das heißt, ich bin heute 80 Jahre, das ist kein Geheimnis. Ich lebe seit 1951 in Israel. Ich war untergetaucht in Holland und bin nach Israel gekommen und hab meinen Mann Hans Gabriely hier kennengelernt.
Der ist in Marburg geboren und hat seine Jugend dort verbracht bis 1934. Mein Mann ist 1921 geboren. Nachbarn, gute Nachbarn haben zu den Eltern gesagt: Es wird jetzt unruhig hier, denn ’33 hat doch das deutsche Regime angefangen. Fahrt mal weg und kommt nach einem Jahr wieder und dann wird sich alles beruhigt haben … Und das hat diese Familie gerettet.
Über meine Vergangenheit spreche ich nicht, das ist sehr schmerzhaft – die Eltern sind umgekommen, mein Bruder ist umgekommen …
Es gab damals die Möglichkeit, ein bestimmtes Kontingent Kinder nach England, in die Schweiz oder nach Holland zu schicken. Ich bin als Kind nach Holland gekommen, bin während des ganzen Krieges in Holland geblieben, war untergetaucht und hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meiner nicht-jüdischen Untertauchfamilie.
Ich hab es mitgemacht, deshalb rede ich nicht viel darüber. Aber es gab Generationen, die nicht schuldig sind. Viele sind einfach mitgelaufen, und viele waren wirklich böse, aber die nächste Generation hat eigentlich nichts damit zu tun, oder wenig, vielleicht haben sie von den Eltern etwas darüber gehört.
Man bleibt der Heimat irgendwie verbunden … und auch der Sprache, das hab ich gemerkt, sonst hätte ich nicht jemanden aus Deutschland geheiratet.
Mein Mann hat nur schöne Erinnerungen gehabt und wollte immer zurück nach Marburg. Und wir sind zurückgekommen nach Marburg und haben da viele Freunde gefunden und auch Freundschaften sind vertieft und weitergegangen.
Wie wir das erste Mal nach Marburg kamen, wollte mein Mann Freunde aufsuchen, Kinder, mit denen er in der Schule war. Und es ist nur eine Familie gewesen, ich weiß nicht den Namen, und Gott behüte, ich will’s auch nicht sagen … Er hat ihn [meinen Mann] gesehen, und er hat sich schrecklich erschrocken und schnell die Tür zugemacht. Hab ich gesagt: “Er braucht das wahrscheinlich, er braucht Zeit zum Denken, oder, er ist mitgelaufen mit der Masse, also lass ihn in Frieden.” Und andere Leute haben sich sehr gefreut: “Komm rein!” Man trinkt was und so fort.
Ich war mehr skeptisch, weil ich hab eine andere Vergangenheit gehabt. Ich war sehr skeptisch, bis ich wirklich gesehen hab, dass die Leute es gut meinen, dass sie ehrlich sind. Aber nachher habe ich gesehen, das sind wirklich … wirkliche Freunde, nicht nur als Wort Freund, aber auch in Tat und Hilfe und Interesse.
Ja, ich war sehr skeptisch … Aber auch an Holland hat man Kritik gehabt. Viele haben Menschen zum Untertauchen genommen. Ich war auch untergetaucht, so wie Anne Frank, ich hab sie gekannt von der Schule aus. Sie war wirklich ein begabtes Mädel. Und dann nachher haben sie gesagt, sie hätten viel mehr tun können. Sie haben die Listen übergeben, wer noch Jude ist. Also, es ist wie du hinguckst, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist.
Jeden Sabbat sind sie in die Synagoge gegangen. Als Kind … es hat ihm gefallen. Deshalb wollte er auch gerne nach Marburg zurück. Er dachte, dass wir vielleicht mal den Sommer über in Marburg leben könnten, wo es angenehmer ist, denn die Hitze hat ihm sehr schwer getan. Es ist alles anders gelaufen. Wir hatten es nicht so gerechnet.
Bei einem Besuch in Marburg ist mein Mann krank geworden. Es war Krebs, und er ist in Marburg gestorben. Und er hat mich gebeten, dass er auf dem jüdischen Friedhof in Marburg begraben werden möchte.
Die Bindung zu Marburg ist eigentlich immer geblieben, weil mein Mann ist weg aus Marburg mit guten Erinnerungen. Das waren Freunde, das war ein kleines Städtchen, jeder kannte jeden und … das war angenehm.
Nicht jeder mag die Juden. Aber man kann nicht alle allgemein abstempeln, weil jemand das gesagt hat, sind alle so. Genauso die Christen, kann man auch nicht sagen, weil die nur ein paar untergetauchte Leute genommen haben… Ich find die waren wunderbar. Schade, dass nicht noch mehr waren, die das gewagt haben, aber die haben mich gerettet! Und nicht nur mich, noch viele andere Leute, sonst hätte ich nicht überlebt. Wir suchen uns auch nicht aus, wo wir auf die Welt kommen. Sie wählen nicht aus, ob Ihr Vater Mohammedaner ist. Wir hätten genauso gut Mohammedaner sein können, ja? Und man muss irgendwie eine Lösung finden, dass man in Frieden leben kann. Das ist der Wunsch, glaub ich, von jedem. Das ist der elementarste Wunsch.
Man muss nicht einig sein mit den Meinungen. So wie es politisch untereinander verschiedene Meinungen gibt, gibt es auch religiöse … Darüber gibt es nichts zu diskutieren. Aber im allgemeinen können die Juden wieder frei in Deutschland leben.
Erinnern ist ja wichtig, haben Sie gesagt. Was ist denn mit dem Vergessen? Das ist doch auch wichtig?
Vergessen soll man erinnern. Vergessen soll man erinnern …
Wenn jemand etwas vergisst, kann man ihn erinnern daran. Und das sollte eigentlich sein, was Sie tun. Die Jugend lernt und vergisst: Ah, was war da mal vor uns, wer hat damit zu tun? Shoa, ist das unbedeutend? Es ist doch ein Teil der Geschichte von Deutschland.
Leute haben viel mitgemacht, und es ist schwer, zu vergessen. Leute haben schreckliche Sachen mitgemacht, aber probieren, das zu vergessen. Und manche haben das Glück, dass es auch wie ausgewischt ist. Ich kenne Leute, die sagen: Ich erinnere mich nicht mehr. Sag ich: Wie kannst du das vergessen? Das ist wahrscheinlich ein Hilfsmittel, ein psychologisches Hilfsmittel. Aber das kann nicht jeder.
Ich hab etwas sehr Persönliches: Schlechte Erfahrungen vergesse ich. Sind aus. Gute Sachen werde ich nie vergessen. Leute, die mir geholfen haben, die nett waren. Nie, nie im Leben, dankbar bin ich dann immer. Und es gibt genug Leute. Das ist… Aber schlechte Sachen soll man vergessen. Aber hier diese Shoa war schlecht, aber war eine Tat, wo eigentlich alle mit einbegriffen waren. Es ist ein Teil der Geschichte. Das sollte man nicht vergessen, verstehen Sie? Aber persönlich, wenn Sie eine schlechte Erfahrung haben, vergessen Sie’s, ist leichter.