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Zettelkasten 2013

mit Texten von Schülerinnen der Elisabethschule Marburg

Ein Protokoll:

Im ersten Jahr waren in den Zettelkästen Aussagen von Mitgliedern der im Nationalsozialismus zerstörten jüdischen Gemeinde Marburg und deren Kindern zu lesen. Sie bildeten den Auftakt für einen fortwährenden Dialog mit diesem Ort.

Die Texte für 2013 kommen aus einer völlig anderen Perspektive. Schülerinnen der Elisabethschule Marburg haben Menschen aus ihrem Umfeld danach gefragt und mit ihnen diskutiert, welche Bedeutung der Ort der ehemaligen Synagoge für sie heute hat.

Im August 2013 gründet sich auf Initiative der Lehrerinnen Jutta Soltendieck-Plenge und Inga Theiß eine Schülerinnengruppe der 11. und 13. Jahrgangsstufen der Elisabethschule Marburg für die Arbeit an der Gedenkstätte der ehemaligen Synagoge Marburg.

Ziel der Arbeitsgruppe (AG) der 10 Beteiligten ist es, die Zettelkästen im Garten des Gedenkens für ein Jahr bis zum 9. November 2014 mit neuen Texten zu bestücken.

Bei mehreren gemeinsamen Treffen vor Ort bekommt die AG Informationen insbesondere zum jüdischen Leben in Marburg. Zwischen den Treffen tauschen sich die Schülerinnen untereinander aus, sammeln ihre Eindrücke, machen Interviews mit Mitschüler/innen, Verwandten, Freund/innen und arbeiten an ihren Zettelkasten-Texten.

27.8.2013

Das Projekt beginnt mit dem Besuch des Gartens des Gedenkens mit einer Einführung durch die Künstler Oliver Gather und Christian Ahlborn, die den Platz im städtischen Auftrag gestaltet haben. Die Schülerinnen bekommen Informationen zu der ehemaligen Synagoge, der Gestaltung der Gedenkstätte und den Intentionen der Künstler zu den Zettelkästen.

Bei der anschließenden Nachbesprechung entsteht ein reger Austausch zwischen Künstlern und Schülerinnen um die inhaltliche Gestaltung der Zettelkästen, mögliche Fragestellungen und Vorgehensweisen. Auf die Frage, warum Jugendliche freiwillig an einem solchen Projekt teilnehmen, kommt sinngemäß die Antwort, dass ihnen das schulische Wissen um den Nationalsozialismus nicht ausreicht, sie mehr erforschen wollen.

3.9.2013

Ein “Stolperstein Spaziergang” durch die Innenstadt

In den letzten Jahren wurden – auch im Rahmen schulischer Projekte – zahlreiche „Stolpersteine“ vor den Häusern bzw. Wohnungen von durch Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Bürger/innen in Zusammenarbeit mit dem Initiator Gunter Demnig in das Pflaster eingelassen.

Die Schülerinnen machten sich so vertraut mit der Geschichte und dem Alltagsleben jüdischer Mitbürger/innen in Marburg.

Aus den Notizen einer Schülerin:

„Uns wurde bewusst, wie nah und alltäglich der Judenhass, die Judenverfolgung und die Deportationen an unserem Zuhause waren, dass die Juden damals Mitmenschen wie alle anderen gewesen waren und plötzlich diese Grausamkeiten erfahren mussten. Wir stellten uns die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass niemand eingeschritten ist, alle weg gesehen haben, wenn wieder eine jüdische Familie aus ihrem Haus vertrieben und weg gebracht wurde.“

17.9.2013

Eine Führung über den jüdischen Friedhof mit Frau Dr. Rumpf-Lehmann

Neben umfangreichen Informationen zur Geschichte des Friedhofs, der Religion, Symbolen und Beerdigungsritualen, geht es wieder um das jüdische Leben in Marburg, bedeutende und weniger bedeutende Familien, Berufsgruppen, die Rolle der Frauen, und den Neuanfang der jüdischen Gemeinde in Marburg.

1.10. 2013

Die Endredaktion

Zusammen mit den Künstlern und den betreuenden Lehrerinnen wählt die Schülerinnen-AG die Texte für die neuen Zettelkästen aus. In einer langen Abendsitzung in der Elisabethschule werden die Materialien, die die Schülerinnen in den letzten 4 Wochen erstellt haben, zusammengetragen. Jetzt beginnt die Suche nach den Aussagen für die Zettelkästen im Garten des Gedenkens.

Viele Texte, Aussagen, Recherchen liegen auf dem Tisch. Manche Schülerinnen haben eigene Texte verfasst, andere befragten Mitschüler/innen, Freund/innen oder Verwandte nach ihrem Wissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust.

Bei diesen Befragungen, eigenen Recherchen und dem Festhalten von Gedanken ging es darum, die teils so verschiedenen Ansichten und Wissensstände zum Thema Nationalsozialismus, Holocaust, Erinnern und Gedenken widerzuspiegeln. Welche Bedeutung hat der Nationalsozialismus, der Holocaust heute für Gleichaltrige? Welche Verantwortung trägt der/ die Einzelne für die Geschichte? Wie interessant, wie wichtig ist eine Gedenkstätte wie die der zerstörten Marburger Synagoge? Welche konkreten Bilder entstehen im Kopf auf einem leeren Platz, wo einst religiöses Leben stattfand? Und schließlich, welche Aussagen passen zu diesem Ort des Gedenkens, in die Zettelkästen?

Es gibt keine einheitlichen Antworten oder Aussagen – manche Gleichaltrigen wissen nichts oder wollen von nichts wissen und stellen von sich aus keinen Bezug zum Nationalsozialismus her, einige fühlen sich gut informiert bis hin zu einem Übermaß an Informationen, das Thema sei ‘ausgelutscht’. Für einige Befragten bzw. AG-Teilnehmerinnen war das Grauen des Holocausts schlicht unvorstellbar.

Der Marburg-Bezug wiederum mache alles noch greifbarer, deutlicher, die Opfer sichtbarer.

Für eine Teilnehmerin ist die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Sorge besetzt, man würde automatisch im Ausland als Nazi abgestempelt.

Parallel stehen die Aussagen, dass das Erinnern unverzichtbar sei, jede und jeder sei ein Produkt der Geschichte, auch des Nationalsozialismus. Offen ist, ob Jugendliche in einer Verantwortung stehen, diese übernehmen müssen. Grundsätzlich gelte es, eine bessere Zukunft zu gestalten.

Dies kann nur einen Ausschnitt der Erörterungen, Diskussionen, Aussagen an diesem Termin darstellen, zeigt aber die Intensität der Auseinandersetzung um die Mitgestaltung der Gedenkstätte.

Und es ist auch nicht genug Zeit, nach mehreren Stunden kann die Auswahl der Zettel noch nicht abgeschlossen werden. Die Schülerinnen treffen sich alleine für einen weiteren Arbeitstermin und entscheiden jetzt über die zehn Texte für die Zettelkästen. Diese werden bis zum 9. November in die Kästen eingebracht und bei der Gedenkfeier am 10. November präsentiert. Eine Schülerin wird dann über die Arbeit der AG zur Entstehung der Texte berichten.

Text und Fotodokumentation: Gerd Krüger, SchulKultur e.V. , Tel: 307 410, mail:schulkultur@web.de

Redebeitrag der Schülerinnen
im Rahmen  der Gedenkfeier


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Zettel 2013