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Zettelkästen 2021

Making of

In Marburg ist sie eine feste Größe: die Freiwillige Feuerwehr. Mit ihren 16 Stadtteilwehren eilt sie nicht nur im Notfall zu Hilfe, sondern bietet auch mit diversen Kinder- und Jugend- sowie Alters- und Ehrenabteilungen ein vielfältiges Vereinsleben an. Doch nach der Geschichte des 1861 gegründeten Vereins befragt, wissen nur wenige Feuerwehrkameradinnen und -kameraden etwas zu berichten. Die Vergangenheit der Marburger Feuerwehr gleicht dabei einem Puzzle, dem noch viele Teile fehlen. Viele der fehlenden Puzzleteile betreffen insbesondere die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.

Um diese Lücken zu füllen, haben der Deutsche Feuerwehrverband und das Deutsche Feuerwehr-Museum in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen das bundesweite Projekt „Feuerwehren in der NS-Zeit“ ins Leben gerufen. Es möchte die Freiwilligen Feuerwehren bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit unterstützen. Maßgeblich gefördert durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat haben engagierte Marburger Feuerwehrkräfte in diesem Projekt das Handwerkszeug erlangt, um eigenständig die Geschichte ihrer Wehr vom Staub der Vergangenheit zu befreien. In mehreren Workshops wurden die Teilnehmenden mitgenommen und aktiv forschend in die Aufarbeitung einbezogen. Ziel war: Nicht von oben herab sollte die Geschichte erklärt, sondern aus dem Kreis der Feuerwehrleute heraus erarbeitet und präsentiert werden.

Und tatsächlich konnten die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Marburg durch ausdauernde Forschung einige neue Erkenntnisse zur Geschichte ihrer Wehr während des Nationalsozialismus an die Oberfläche bringen. Durch Archivrecherchen sowie anhand von Fotografien und Objekten ließ sich die Vergangenheit Stück für Stück rekonstruieren – eine Vergangenheit, in der die Freiwillige Feuerwehr nach und nach ihre Freiwilligkeit verlor. Bald galt der Wahlspruch „Gott zu Ehr, dem Nächsten zur Wehr“ nichts mehr: Durch Gesetze gleichgeschaltet fügte sich die Marburger Feuerwehr dem totalitären System, änderte ihre Struktur sowie ihr Erscheinungsbild und schloss sogenannte „nicht-arische“ Mitglieder aus. Dies wird am Schicksal des jüdischen Kaufmanns Elias Goldschmidt deutlich. Aus Angst vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten verkaufte er sein Schuhgeschäft und Heim am Steinweg 3 ½ unter Wert und floh in das damalige Palästina.

Seit der Machtergreifung durchdrang die menschenverachtende NS-Ideologie die deutsche Gesellschaft und fand auch unter den Feuerwehrkameraden gehorsame Anhänger. So beteiligte sich auch ein Angehöriger der Feuerwehr in seiner Funktion als SA-Mitglied an der Inbrandsetzung der Synagoge. Der Prozess, in dem erst nach dem Krieg die Tat in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 rekonstruiert und die Täter zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, geriet damit zu einer wichtigen Quelle über die Geschichte der Freiwilligen Feuerwehr Marburg. Zitate aus dem „Synagogenbrandprozess“ sollen den Geist der Zeit anschaulich machen und stehen im krassen Kontrast zu dem demokratischen und freiheitlichen Selbstverständnis der heutigen Freiwilligen Feuerwehr Marburg.

Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Historie haben sich die Freiwillige Feuerwehr und der Fachdienst Brandschutz der Stadt Marburg entschieden, die „Zettelkästen“ im Garten des Gedenkens sowohl mit historischen Zitaten als auch Aussagen heutiger Feuerwehrmitglieder zu füllen. Die Äußerungen von Zeitzeugen und Mittätern der Synagogenbrandstiftung eröffnen eine spannende historische Perspektive auf die schrecklichen Ereignisse des 9. Novembers 1938. Im Kontrast dazu bilden die Zitate der heutigen Mitglieder der Feuerwehr Marburg die moderne Perspektive auf die Pogromnacht und die Angriffe auf Synagoge und jüdisches Leben in Marburg ab.