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Zvi Gimmon

Jerusalem, Israel, 2012

Wenn ich etwas vorschlagen darf – da Worte ja eine große Rolle in Ihrem Projekt spielen: Es gibt ein hebräisches Wort, das hier stehen sollte, und dieses Wort heißt:  Schalom. Schalom! Man buchstabiert es S-C-H-A-L-O-M.
Schalom ist das wichtigste, das grundlegende hebräische Wort. Es bedeutet Frieden überall, Frieden für jeden. Es gibt nur das eine Wort. Es gibt keine verschiedenen Arten von Frieden, weil Frieden Frieden ist, so wie die Wahrheit die Wahrheit ist.

Mein Name ist Zvi Gimmon, ich arbeite als Chirurg im Hadassah Medical Center in Jerusalem. Und wir befinden uns gerade zuhause bei uns in Jerusalem.

Marburg

Meine Verbindung zu Marburg ist eine genetische Verbindung. Mein Vater ist dort geboren, meine Großeltern sind dort geboren. Und in jenen Tagen war der Name der Familie Goldschmidt. Meine Großeltern besaßen ein Fachgeschäft für Schuhe, Salamander-Schuhe am Steinweg Dreieinhalb im Zentrum von Marburg. Mein Vater verließ Marburg 1934, nachdem das Nazi-Regime an die Macht kam.
Er war ein Marburger Lokalpatriot. Er sagte oft zu mir: “Wir, wir in Marburg hatten einen Nobelpreisträger.” Ein Nobelpreisträger aus Marburg war Paul Ehrlich. Mein Vater war stolz, gebürtiger Marburger zu sein. Und dann, innerhalb eines Jahres, zwischen 1933 und 1934 war alles auf den Kopf gestellt. Es war wie ein vollständiges soziales und politisches Erdbeben.

Emigration des Vaters 1934

Weil… ich war verblüfft, wie mein Vater 1934 verstehen konnte – er war damals 25 Jahre alt – wie er begriff, dass er alles zurücklassen muss, um in ein Land zu fliehen, das er nicht kannte, und dass er seine Eltern verlassen musste, und er kannte niemanden in Israel. Also das ist eine große Entscheidung. Versuchen Sie, sich das selbst vor Augen zu halten, um sich die Tragweite einer solchen Entscheidung vorstellen zu können: Könnten Sie gehen… und sich – sagen wir, innerhalb weniger Wochen – entscheiden, alle Kontakte abzubrechen, die Sie haben? Und Sie wandern aus in eine fremde, eine vollkommen fremde Gegend, von der Sie nicht mal wissen, wie sie aussieht. Und das zu einer Zeit, in der es kein Fernsehen gab, Sie wissen nicht, wie andere Länder aussehen. Sie haben keine Telekommunikation, kein iPhone, kein Telefon. Also: sich von allem trennen.
Und ich habe ihn gefragt: “Wie bist du bereits 1934 zu der Diagnose gelangt, dass das Verhängnis unausweichlich ist?“ Ein Jahr, nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Weil ich, als ich ihm diese Frage stellte, mir dieselbe Frage vorlegte: Würde ich es geschafft haben, dieselbe Prognose zu stellen, daß etwas Furchtbares passieren würde? Und was brachte dich hierher? Was lag in der Luft, das du fühlen konntest? Welches waren deine Parameter dafür, daß die Dinge sich so schlimm entwickelten.

“Wie also hast du verstanden, dass du gehen mußt?”
Er sagte: “Weil ich sah, wie sich das Verhalten meiner Schulfreunde veränderte.” Er war bis zu seinem Schulabschluß 1927 in einer regulären Klasse, und jene, die mit ihm aufwuchsen, waren seine Freunde. Und er war sozial gut eingebunden. Und als Hitler an die Macht kam, änderten die guten Freunde, die, mit denen er aufgewachsen war, ihre Haltung. Und er sah sie durch die Straßen ziehen und singen – da gab es ein Lied, ich weiß nicht, ob irgendjemand anderes, mit dem Sie gesprochen haben, das erwähnt hat…. da gab es ein Lied… –  mein Vater kannte sicherlich den ganzen Text, aber ich erinnere mich nur an einen Satz, der hieß: “Wenn Judenblut von dem Messer spritzt …” Das war das wichtigste Leitmotiv des Lieds. Und als er sah, wie seine Freunde dieses Lied singen und sie ihn nicht mehr grüßen, und sie drücken sich darum, ihn zu besuchen, und daß niemand mehr in den Laden kam, um Schuhe zu kaufen, keiner von denen, die über viele Jahre gute Kunden waren… und das passierte innerhalb sehr kurzer Zeit.

Wenn Sie mich also fragen, was ich von meinem Vater gelernt habe: dass sich das Verhalten der Menschen, die dich umgeben, ändern kann. Sie können sich plötzlich ändern, und ihr Verhalten kann sich plötzlich um 180 Grad ändern. Und die nächste Schlußfolgerung ist dann… du solltest… und das ist wie ein Vermächtnis, das weitergegeben werden muss… also du solltest sehr aufmerksam versuchen, stark und unabhängig genug zu sein, damit es nicht wieder passiert.

Ruth Gimmon:
Was wir nicht verstehen können, ist, dass… wir… jetzt stellen wir viel mehr Fragen, aber wir haben niemanden mehr, der uns antworten könnte. Mein Vater mir nicht – und sein Vater ihm nicht….

Marburg nach 1945

Die Beziehung zu Marburg ist also, dass wir wussten, dass die Wurzeln der Familie unseres Vaters in Marburg sind. Er wollte nicht nach Deutschland zurückkehren. Er war sehr zögerlich, und es dauerte viele lange Jahre, nachdem die Gesellschaft für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit ihn zu einem Besuch in Marburg eingeladen hatte. Und dann gingen mein Vater und meine Mutter nach Marburg, und später auch mein Bruder und ich. Wir sind also die zweite Generation, und wir waren dort.
Der Bürgermeister gab einen Empfang für uns, und er überreichte jedem von uns ein Buch über Marburg. Und wenn Sie dieses Buch öffnen, finden Sie auf den letzten Seiten die Geschichte Marburgs. Und was sehr, sehr eigentümlich ist: es passierte nichts zwischen 1939 und 1945. Leer. Null. Sie erfahren, dass der Erzbischof kam, und dies und das – alles bis 1939 –, und dann wieder ab 1946. Und dazwischen passierte nichts.

Bedeutung der Gedenkstätte

Die Hauptbotschaft, von der ich glaube, sie ist für jeden an dieser Gedenkstätte wichtig, ist diese: jedwede dramatischen Veränderungen von Einstellungen der Menschen zu vermeiden, die eine ganze Gesellschaft zerstören können.
Und wenn es passiert, und manchmal mag es passieren, nicht notwendigerweise am gleichen Ort und in den gleichen Ländern, dann müssen sich die Menschen dennoch im klaren sein, dass es das Verhalten dramatisch verändern kann, und nicht davon ausgehen, dass das, was zuvor war, für immer bestehen bleiben wird. Und es besteht immer die enorme Gefahr, dass sich das menschliche Verhalten verändert und ein Desaster verursacht.